Zuhause bei Grosstante Gerda

Veröffentlicht am 16. September 2025 um 08:28

Ich zögere einen Moment, bevor ich den Schlüssel langsam ins Schloss der Tür des kleinen Häuschens stecke. Was wird mich hinter der dunkelgrünen, leicht vergilbten Tür erwarten?

Meine Grosstante Gerda lebt schon seit vielen Jahre lang hier. Sie war nie verheiratet und pflegt auch sonst nur wenige Kontakte. Vor Kurzem ist sie unglücklich gestürzt und hat sich den Arm gebrochen. Daher liegt sie nun im Spital und benötigt dringend frische Kleidung.

Mein Vater, der hin und wieder bei seiner Tante vorbeigeht, ist gerade geschäftlich im Ausland und hat mich gebeten, Gerda im Spital einen Besuch abzustatten. Bei diesem hatte sie mir den Schlüssel ausgehändigt mit der Bitte, ein paar Dinge, die sie auf einer Liste zusammengestellt hat, in ihrem Häuschen zu holen. Das letzte Mal, als ich bei Gerda zuhause war, war ich noch ein Kind und meine Erinnerungen daran sind eher verschwommen.

Nachdem der Schlüssel sich etwas verklemmt hat, lässt sich die Tür problemlos öffnen und ich bin schon das erste Mal überrascht. Es kommt mir ein angenehmer Duft nach Rosengeranien entgegen. Meine Grosstante scheint doch tatsächlich so etwas wie einen Lufterfrischer zu benutzen. Ich hatte mir zuvor schon Gedanken gemacht, ob ich wohl den abgestandenen Duft in ihren Räumen ertragen würde. In meiner Vorstellung riecht es immer so bei älteren Menschen zuhause.

Da dies auf der Liste zuoberst steht, öffne ich die Fenster im Wohnbereich und schaue mich um. Der Raum wirkt einladend, hell, freundlich und sauber aufgeräumt. Neben der rosafarbenen einladend wirkenden Couch steht ein hohes Regal, welches prall gefüllt ist mit Büchern. Interessiert gehe ich näher heran und sehe, neben unzähligen Sachbüchern zu Naturthemen wie Pflanzen, Blumen und Tieren auch einige Kriminalromane und Psychothriller da stehen. Das erstaunt mich wirklich und hätte ich Tante Gerda gar nicht zugetraut.

Als nächstes betrete ich die Küche und öffne direkt den Kühlschrank, um nach abgelaufenen Waren zu suchen. Auch das steht auf der Liste von Gerda. Lustigerweise befinden sich neben Butter und Käse auch Fruchtzwerge in ihrem Kühlschrank. Lachend stelle ich mir vor, wie die 85-jährige Gerda sich diese genussvoll einverleibt. Nachdem ich die Aufgabe erledigt habe, mache ich mich auf den Weg zur kleinen Treppe, die in den oberen Stock führt.

Dort gibt es zwei Türen und ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus, nachdem ich die erste Tür geöffnet habe. Im grossen, lichtdurchfluteten Raum, den ich betrete, stehen mehrere Staffeleien mit grossen Leinwänden darauf. An den Wänden hängen und stehen diverse kunterbunte Bilder, die mich total faszinieren. Zum Teil zeigen sie realitätsnahe Abbildungen von Landschaften und zum Teil kunstvoll ineinander verlaufende Farbverläufe. Ich hatte ja keine Ahnung, dass Gerda sich für Kunst interessiert und hätte mir nicht im Traum vorstellen können, dass sie so begabt ist.

Nachdem ich mir Zeit genommen habe, die Bilder auf mich wirken zu lassen, erinnere ich mich wieder an die Liste und betrete das Schlafzimmer meiner Grosstante. Darin steht doch tatsächlich ein modernes Boxspringbett. Das hätte ich nun wirklich nicht erwartet. So langsam wird mir bewusst, wie wenig ich eigentlich über Gerda und ihr Leben weiss. Ich bekomme ein wenig ein schlechtes Gewissen und nehme mir fest vor, das zu ändern, solange es noch möglich ist. Mit dem Besuch in ihrem Häuschen, wird mir Gerda immer sympathischer.

Mit einer grossen Reisetasche, gefüllt mit allen Dingen auf der Liste und ein paar Fruchtzwergen, betrete ich ein paar Stunden später das Krankenhaus. Gerda scheint sich sehr zu freuen über die Sachen, jedoch noch viel mehr darüber, dass ich Interesse angemeldet habe, mir von ihr das Malen beibringen zu lassen und sie, wenn sie wieder nach Hause gehen kann, des Öfteren zu besuchen und in der Genesungszeit zu unterstützen.

 

 

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