Die Lebenswiese

Veröffentlicht am 16. September 2025 um 08:35

Nach einer unruhigen Nacht, in der mich die Gedanken um die Traumata meiner Kindheit wachhielten, taste ich mich im Halbdunkeln zur Dusche. Ich absolviere gerade einen Kurs, der sich inhaltlich mit dem Thema Trauma und deren Bewältigung befasst und merke, dass dieser ganz schön etwas auslöst. Am Vortag war ich meine ersten Lebensjahre anhand der Tagebücher meiner längst verstorbenen Mutter durchgegangen und hatte mich in Fünfjahresschritten durch mein bisheriges Leben und alle prägenden Ereignisse gearbeitet.

In der Dusche angekommen, stelle ich mich unter die Brause und geniesse die wohlige Wärme, die meinen Körper umfasst. Zum Schluss drehe ich, wie fast immer, den Hahn noch kurz auf kalt, um erfrischt in den, voraussichtlich strengen, Arbeitstag starten zu können. Nachdem der Wasserstrahl versiegt, steige ich aus der Dusche und wickle mich rasch in meinen kuschligen lila Bademantel.

Mit einem Mal befinde ich mich auf einer grossen Blumenwiese. Vor mir plätschert ein kleiner Wasserfall und neben mir tummeln sich verschiedene Tiere. Neugierig schaue ich genauer hin und erkenne, dass dies mir völlig unbekannte Tierarten sein müssen. Einige dieser zarten Lebewesen reichen mir etwa bis zu den Knien, sind bunt gestreift und haben eine lila Nase, die sich dann zu einem kleinen Rüssel verläuft. Andere sind zum Beispiel schwarz, haben goldene Streifen und auffallend orange Augen. Ich schaue mich weiter um und erschrecke, als mir plötzlich jemand von hinten auf die Schulter tippt. Reflexartig drehe ich den Kopf und sehe erstaunt eine übergrosse Eule vor mir stehen. Das weisse Tier reicht mir bis zu den Schultern, hat wunderschön grüne Augen und begrüsst mich mit den Worten: «Herzlich willkommen auf Deiner Lebenswiese».

Neugierig begrüsse ich meine Geistführereule, die ich mir schon oft in Meditationen ausgemalt habe und stelle ihr direkt meine brennenden Fragen. Ihre Stimme ist sanft und klar, während sie mir alles erklärt. Die Tiere, welche sich zahlreich auf der Wiese tummeln stehen für meine prägenden Lebensmomente, genauer gesagt für die dadurch ausgelösten Gefühle. Sie speichern diese für mich und helfen mir, mich im richtigen Moment daran zu erinnern. Den Ausflug auf die Wiese hatte ich also durch mein Stöbern in meinen Erinnerungen ausgelöst. Cleowa, wie sich die Eule vorgestellt hat, erklärt mir weiter, dass es ganz wichtig ist, dass ich jedes Tier, auch und ganz besonders diejenigen, welche mir nicht gefallen, achte, wertschätze und auch pflege. Um gedeihen und sich schlussendlich in positive, stärkende Tiere verwandeln zu können, brauchen sie meine Liebe.

Angespornt von diesen Worten wende ich mich einem kleinen wurmartigen Tier zu, welches rote Tupfen hat und einen seltsamen gelben Schleim absondert. Mit etwas Überwindung hebe ich es auf und halte es mir ans Herz. Dabei spreche ich ein paar liebevolle Worte zu diesem kleinen Geschöpf. Es dauert nicht lange, da geht ein Ruck durch den Wurm und es entsteht ein wunderschönes flauschiges Tierchen daraus, welches anmutig mit seinen silbernen Flügeln davonfliegt. Staunend schaue ich ihm nach und kann fast nicht glauben, was da eben passiert ist.

Fragend wende ich mich wieder Cleowa zu und stelle fest, dass auch sie verschwunden ist. Plötzlich kann ich die Umrisse meines Badezimmers erkennen und merke, dass ich, eingewickelt in den Bademantel, vor der Dusche stehe. Wie ist das möglich? Habe ich etwa geträumt?

Zwischen meinen Kleidern, welche ich mir für den heutigen Tag bereitgelegt habe, finde ich eine grosse weisse Feder. Dankbar halte ich sie an mein Herz und nehme mir fest vor, achtsamer mit mir und meinen Gefühlen umzugehen. Alles, was ich erlebt habe, hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Mit diesen Gedanken starte ich voller Elan in meinen Arbeitstag.

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