"Aufruhr auf der Palliativstation" oder "Das Sterben wird abgeschafft."

Veröffentlicht am 16. September 2025 um 08:35

Als ich aus dem Lift trete, um meine Schicht auf der Palliativstation in einem grossen Kantonsspital zu beginnen, höre ich bereits aufgeregtes Stimmengewirr. Irritiert, da bei uns in der Regel eine ruhigere Atmosphäre herrscht, betrete ich das Stationszimmer, wo mich eine Kollegin, ohne Umschweife, auf den neuesten Stand bringt. «Es wurde heute beschlossen, das Sterben per Ende des Monats definitiv abzuschaffen. Das ist auch unser Ende. Was sollen wir denn tun, wenn niemand mehr stirbt?», so ihre Worte.

Das ist eindeutig eine gute Frage. Aufgeregt sprechen alle durcheinander und es wird immer deutlicher, dass diese Änderung in den irdischen Regeln eine Menge an Konsequenzen und Überlegungen mit sich bringt. Kurz geht mir durch den Kopf, dass dies doch eigentlich gar nicht möglich sein kann, doch diesen Gedanken lege ich direkt wieder beiseite, da meine Teamkolleginnen mich vom Gegenteil überzeugen mit ihren Erzählungen. Der Beschluss sei politisch getroffen und universell verfügt worden. Daher gäbe es auch keinerlei Möglichkeiten, etwas dagegen zu tun.

Schlussendlich kehren wir zum normalen Tagesgeschäft zurück, da wir die Situation nicht ändern können und versuchen, da Beste daraus zu machen. So betrete ich, nach der Übergabe, das Zimmer der ersten Patientin. Sie ist 50 Jahre alt und leidet an einem Krebsleiden mit Metastasen in der Lunge und der Leber und ist momentan hospitalisiert, da sie vermehrt Schmerzen und Atemnot hatte. Mittlerweile ist sie medikamentös gut eingestellt und ihr Austritt ist in ein paar Tagen geplant. Sie wirkt aufgewühlt, als ich sie nach ihrem heutigen Befinden frage und beginnt zu weinen. Als sie ihre Diagnose bekommen habe, da hätte sie sich wirklich nichts sehnlicher gewünscht als die Möglichkeit, weiter zu leben und Zeit mit ihrem Mann und ihren Kindern zu verbringen. Mittlerweile aber merke sie vermehrt, dass sie müde sei, lebensmüde und dass ihr die Krankheit immer mehr zusetze. Dies habe sie jedoch bis jetzt so hingenommen und stets gekämpft – für ihre Kinder, ihren Mann und für mehr gemeinsame Zeit. Dafür habe sie auch viele zusätzliche Beschwerden und Nebenwirkungen der Therapien auf sich genommen. Doch die jetzige Situation sei für sie noch schlimmer als der Moment, in dem sie die Diagnose bekommen habe. Bis zum Ende des Monats müsse sie sich definitiv entscheiden. Soll sie bis auf Weiteres (womöglich Jahrhunderte lang, wenn sich nichts an der Lage ändert) weiterleben mit ihrer Krankheit und den zunehmenden Beschwerden oder soll sie sich aktiv für eine Beendigung dieses Lebens noch in diesem Monat entscheiden?

Dieses Gespräch bringt auch mich zum Nachdenken. Sterben in der heutigen Zeit ist sehr oft eine bewusste Entscheidung. Es gibt immer irgendeine Therapie oder weitere Behandlungsmöglichkeit. Die Frage ist jeweils nur, welcher Preis dafür gezahlt werden muss. Ich weiss auch aus eigener Erfahrung, dass das Sterben oft eine Erleichterung ist, gerade, wenn die Person vorher stark gelitten hat, und zwar eine Erleichterung für das Umfeld und, meinem Eindruck nach, auch für die betroffene Person. Zudem bin ich davon überzeugt, dass das Sterben nur ein Übergang ist in eine andere Form des Seins – ein Sein ohne Schmerzen und anderes Leid. In der Gesellschaft ist das Sterben ein grosses Tabuthema und oft sehr negativ behaftet. Viele Menschen setzen sich erst damit auseinander, wenn sie im eigenen Umfeld oder bei sich selbst damit konfrontiert werden. Also, was soll ich meiner Patientin dazu sagen?

Die Entscheidung wird mir, zum Glück, durch meinen Wecker abgenommen. Auch wenn das Sterben aus gesellschaftlicher Sicht nichts Gutes ist, hat es eben doch seine Berechtigung und seinen Sinn. Mit diesen Gedanken mache ich mich auf den Weg zu meiner nächsten Schicht.

 

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